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Von Coverdesigner Jakob Hagen. Grüne geometrische Figuren, die ein Schlüsselloch ergeben. Gelesen von Jakob Hagen. The Human Computers.

GRÜN

Mein Vater hat einen Schatz im Keller. Mein Vater hat einen Schatz im Keller hinter den Tomatendosen. Er versteckt ihn hinter den Tomatendosen und sieht ihn sich jeden Tag an. Jeden Tag öffnet er lautlos die schwere Holztür und schleicht, so leise er nur kann, die wenigen Stufen hinunter in die Kälte. In dieser Kälte ist er aufgewachsen, an diese Kälte ist er gewöhnt und in ihr wird er letztendlich sterben. Mein Vater stirbt. Er stirbt vielfältig: innerlich und wirklich. Mir kommt es so vor, als würde zwischen den Momenten, in welchen wir uns schweigend in die Augen sehen, ein Teil von ihm einfach herausbrechen. Er bricht heraus und tritt sich in den Fugen fest. Was beim Frühstück noch vorhanden war, ist beim Abendbrot verschwunden. Es ist verschwunden und hinterlässt eine klaffende Wunde mit sauberen Trennlinien. Mein Vater zerfällt. Er zerfällt und ich befürchte, dass ihm nicht mehr viel Zeit bleibt, bis er in seiner Gesamtheit verschwunden ist. Bis genug Stücke aus ihm herausgebrochen sind und er mehr aus nichts besteht als aus sich selbst.

Mein Vater hat einen Schatz im Keller. Mein Vater hat einen Schatz im Keller hinter den Tomatendosen und sieht ihn sich jeden Tag an. Jeden Tag, wenn er ihn hervorholt, beginnt mein Vater zu strahlen. Ich kann das sehen. Durch das Schlüsselloch kann ich das Leuchten sehen, das ihn durchsetzt. Es durchsetzt ihn und ich sehe, dass ein Teil aus ihm herausbricht. Er bricht heraus und tritt sich in den Fugen zwischen den Bodenfliesen fest. Er tritt sich fest und das Strahlen erlischt, sobald mein Vater seinen Schatz hinter die Dosen zurückstellt. Er stellt ihn zurück und macht sich auf den Weg nach oben. Wenn mein Vater nach oben kommt, laufe ich weg. Ich laufe weg und hoffe, dass er mich nicht bemerkt hat. Wenn er dann zurückkommt, ist er ganz kalt. Mein Vater ist kalt. Er friert und immer wenn er friert, beginnt er zu erzählen.

Mein Vater hat einen Schatz im Keller. Mein Vater hat einen Schatz im Keller und immer, wenn er wieder heraufkommt, ist ihm kalt. Dann setzt er sich und beginnt zu erzählen. Er erzählt und seine Worte wärmen mich. Sie wärmen mich und ich bemerke, dass mein Vater mit jedem Wort schwächer wird. Er wird schwächer und erzählt mit geschlossenen Augen. Er erzählt und ich spüre, wie jeder der Sätze aus seinem Innersten kommt. Sie kommen herauf und entfachen in meinen Gedanken Bilder. Ich versuche mir vorzustellen, was mein Vater gerade sieht. Was er einst gesehen hat. Er erzählt von Farben und er malt mir eine Welt. Er malt eine Welt mit Worten und ich stelle sie mir vor. Ich stelle mir das dunkle Braun des Holzes vor, das kräftige Rot der Äpfel und das weiche Blau des Himmels. Ich stelle mir die Farben vor und mein Vater mischt sie für mich. Er mischt mir die Farben und malt mir eine Welt.

Mein Vater hat einen Schatz im Keller. Mein Vater hat einen Schatz im Keller und immer, wenn er ausgekühlt wieder heraufkommt, wärmt er mich mit seinen Worten. Vielleicht bin ich zu jung. Er wärmt mich und füttert mich mit Farben. Er mischt mir die Farben und malt mir eine Welt. Vielleicht bin ich zu jung, um alles verstehen zu können. Er malt mit geschlossenen Augen. Er malt mit geschlossenen Augen und ich versuche mir seine Bilder vorzustellen. Ich bin zu jung, denke ich. Ich bin zu jung, um alles verstehen zu können. Doch wenn ich älter bin, wird sich alles zeigen. Wenn ich älter bin, werden sich die Bilder vor mir zeigen. Ich werde sehen, was mein Vater sah und verstehen, was er mir zeigen wollte.

Mein Vater hat einen Schatz im Keller. Mein Vater hat einen Schatz im Keller und immer, wenn er ausgekühlt wieder heraufkommt, wärmt er mich mit seinen Worten und malt mir eine Welt. Er malt mir eine Welt, die ich nicht verstehen kann. Er erzählt von Dingen, die ich nicht kenne. Ich kenne sie nicht, doch ich versuche sie mir vorzustellen. Er erzählt und in seinen Bildern bleiben Lücken. Da sind weiße Flächen, die ich nicht füllen kann. Da sind Lücken und es macht mir Angst. Ich habe Angst, weil mein Vater mit jedem Wort schwächer wird. Mein Vater stirbt. Er stirbt und hinterlässt mir seine Worte. Er hinterlässt seine Worte, die ich zu Bildern denke. Doch in den Bildern sind Lücken. In den Bildern ist leerer Raum.

Mein Vater hat einen Schatz im Keller. Mein Vater hat einen Schatz im Keller und immer, wenn er ausgekühlt wieder heraufkommt, wärmt er mich mit seinen Worten und malt mir eine Welt mit Lücken. Da sind Lücken, die ich nicht füllen kann. Mein Vater erzählt immer auf die gleiche Weise. Er nennt mir eine Sache, wo sie ist und ihre Farbe. Die meisten Sachen kenne ich. Ich kenne sie aus meiner eigenen Welt. Ich kenne sie und kann sie mir vorstellen. Die, die ich nicht kenne, kann ich nachschlagen. Ich schlage sie nach in dicken staubigen Büchern. Die meisten Orte kenne ich. Die, die ich nicht kenne, kann ich nachschlagen. Ich schlage sie nach in dicken staubigen Büchern. Die meisten Farben kenne ich. Doch die, die ich nicht kenne, kann ich nicht nachschlagen. Die Bücher antworten nicht. Die Bücher schweigen.
Je öfter er davon erzählt, desto trauriger werde ich. Ich werde traurig und beginne zu weinen. Immer wenn ich weine, hört mein Vater auf zu erzählen. Er hört auf und ich spüre in seiner Umarmung, wie ein Teil von ihm verschwindet. Ich spüre, wie mich weniger Vater wieder loslässt, als mich umarmt hat. Mein Vater stirbt. Er stirbt und hinterlässt mir seine Bilder. Ich habe sie mir vorgestellt, doch Teile davon bleiben leer. Da sind weiße Flächen auf den Bildern und ich kann sie nicht füllen. Die Bücher schweigen

Mein Vater hat einen Schatz im Keller. Mein Vater hat einen Schatz im Keller und immer wenn er ausgekühlt wieder heraufkommt, wärmt er mich mit seinen Worten, malt mir eine Welt mit Lücken und stirbt. Irgendwann kommt er nicht wieder. Er geht in den Keller und kommt nicht mehr herauf. Er geht hinunter und als er seinen Schatz hinter den Tomatendosen hervorholt und zu strahlen beginnt, bricht das letzte Stück aus ihm heraus. Es bricht heraus und mein Vater stirbt. Ich sehe das Strahlen durch das Schlüsselloch. Ich sehe das Strahlen und mein Vater fällt auf die Bodenfliesen. Er stirbt und das Licht erlischt. Er hinterlässt seine Bilder. Er hinterlässt seine Bilder, die ich mir vorstelle und die Lücken haben. Da sind weiße Lücken in den Bildern und ich kann sie nicht füllen.

Die Tomatendosen haben einen Schatz im Keller. Die Tomatendosen haben einen Schatz im Keller und immer, wenn sie wieder heraufkommen, sind sie kalt. Die Tomatendosen frieren. Sie frieren hinter meinem Vater. Mein Vater stirbt hinter den Tomatendosen. Mein Vater stirbt und die Tomatendosen haben Lücken, die ich nicht füllen kann. Er hinterlässt Angst und ich weine Bodenfliesen. Das letzte Stück Farbe bricht heraus und tritt sich aus den Fugen fest. Es tritt sich fest und die Bilder sterben. Ich habe Angst vor den Lücken, zwischen welchen mein Vater festgetreten ist. Er tritt sich fest und die Lücken haben Bilder mit leeren Flächen und keinen Vater mehr. Die Lücken haben keinen Vater mehr und Bilder, die frieren. Die Tomatendosen frieren hinter den Schätzen. Sie frieren und treten sich in den Bildern fest.

Mein Vater hat einen Schatz im Keller. Mein Vater hatte einen Schatz im Keller und stirbt. Er hinterließ Angst und Bilder, die ich nicht füllen kann. Er erzählt mir von Dingen, die ich nicht kenne, aber nachschlagen kann. Er erzählte von Orten, die ich nicht kenne, die aber in staubigen Büchern stehen. Und er erzählt von Farben, die ich noch nie gesehen habe. Jeden Tag gehe ich zur Kellertür und umschließe den Knauf mit meinen Händen. Ich gehe zur Tür, umschließe den Knauf, aber gehe nicht nach unten. Ich blicke durchs Schlüsselloch, doch sehe kein Strahlen. Da ist kein Licht und ich habe Angst.

Mein Vater hat einen Schatz im Keller. Mein Vater hatte einen Schatz im Keller, starb und hinterließ Angst und Bilder, die ich nicht füllen kann. Ich stehe vor der Kellertür und halte den Knauf umschlossen. Ich halte ihn umschlossen und drehe daran, bis die Tür aufschwingt. Die Tür schwingt auf und ich schleiche so leise ich nur kann die wenigen Stufen hinunter in die Kälte. In dieser Kälte bin ich aufgewachsen. An diese Kälte bin ich gewöhnt und in ihr werde ich letztendlich sterben. Ich sterbe: innerlich und wirklich. Ich habe Angst und hole den Schatz hinter den Tomatendosen hervor. Ich schiebe die Dosen beiseite, halte den Umschlag in meinen Händen und beginne zu strahlen. Ich strahle von innen heraus wie mein Vater. Ich strahle und sehe Bilder. Ich sehe Bilder, die ich noch nie zuvor gesehen habe, doch ich kenne sie. Es sind die Bilder meines Vaters. Die Bilder, die er mit Worten gemalt hat. Ich sehe Dinge und Orte, die ich nachgeschlagen habe. Dinge und Orte aus staubigen Büchern. Und dazwischen funkelt etwas. Es funkelt, doch ich weiß nicht, was es ist. Ich kenne es nicht, doch ich fühle mich damit verbunden. Zwischen mir und diesem Funkeln besteht eine Verbindung. Ich habe es noch nie zuvor gesehen. Das Funkeln und ich haben den gleichen Ursprung. Wir haben den gleichen Ursprung und das gleiche Ende. Ich habe keine Angst und ich weine nicht. Das Strahlen scheint aus meinem Innersten zu kommen. Ich strahle und blicke hinauf zur Kellertür. Ich blicke zur Tür und zum Schlüsselloch, durch welches ich meinen Vater beobachtet hatte. Ich hatte ihn beobachtet, wie er seinen Schatz hinter den Tomatendosen hervorholte. Ich sehe das Loch und den Schatten. Das Strahlen scheint aus meinem Innersten zu kommen. Ich sehe das Loch und den Schatten. Das Strahlen scheint aus meinem Innersten zu kommen.
Ich sehe das Loch, den Schatten, dann das Licht.


Dieser Text erschien in Ausgabe 5 der Apostrophe
und als Hörbuch:

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